28.10.2022

2002 - 2012 - 2022

Drei irgendwie zusammenhängende Schnipsel:

Gerhard Schröder hatte ich anfangs kurz erwähnt.

Eins seiner Hauptwerke (beginnend mit dem Bericht der Hartz- Kommission 2002) war die Agenda 2010. Allgemein bekannt ist, daß im Zuge dieser Reform die Arbeitslosenhilfe abgeschafft wurde.

Es gibt jedoch ein Detail, das in der öffentlichen Wahrnehmung fast gänzlich unbekannt ist, nämlich: die alte Sozialhilfe (eine kommunale Leistung für diejenigen, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben hatten) berücksichtigte noch einigermaßen konsequent das Subsidiaritätsprinzip

(Wir klären unser Problem zuerst in der Familie, wenn das nicht gelingt, gehen wir zum Bürgermeister, dann zum Landesfürsten, und ganz am Ende erst zum Kaiser. Wenn der uns nicht hilft, ist Gott zuständig.)

Beim ALG II ("Hartz IV") wurde dieses Prinzip ("Ohne Subsidiarität keine Solidarität!") ausgehebelt. Man konnte gleich direkt zum Kaiser (Arbeitsagentur) gehen, und die Eltern wurden nicht mehr angeschrieben. In der Folge kamen (angeblich, für die Zahl lege ich nicht die Hand ins Feuer) eine Million Anspruchsberechtigte, die zuvor nirgendwo registriert waren, aus ihren Verstecken. Prekäres Volk im Schleudergang, das Schmach und Familienskandal umgangen hatte und nun ins Sozialsystem einsteigen konnte, ohne daß die Eltern was mitkriegten.

Es war also (aus Sicht der Betroffenen) nicht alles schlecht unter Schröder. 

Bis in die zehner Jahre hatte man es noch zu tun mit einer enormen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt im Niedriglohnbereich. Es gab massenhaft Menschen, die für sechs Euro die Stunde alles mitmachten - mitmachen mußten, denn die Sitten waren streng. (Das Leben der "Boomer" konnte auch unlustig sein.) So wurde ich zum Aufstocker: Niedriglohn plus Transferleistung. Wir haben uns damals alle gegenseitig die Tarife versaut. Wer macht's noch billiger? Jeder ist ersetzbar! Es war emotional nachvollziehbar und zugleich subjektiv vernünftig, einen auf Eulenspiegel zu machen und das "System" auszutricksen.

Der Bärendienstleister

Die Geschichte von Johannes Ponader - eine Illustration des Zeitgeistes. Er war so ein ähnlicher Fall wie ich damals: selbständiger Kleinstgewerbler mit Aufstockung vom Hartz- Amt. Ich weiß nicht, wie das heute ist, seinerzeit gab es diese Möglichkeit für einen Luftikus und Scharlatan (so stand es auf meiner Visitenkarte), über die Runden zu kommen, einigermaßen in Ruhe gelassen zu werden, und Sozialversicherung plus Miete plus Grundsicherung zu bekommen. Das wurde nicht großartig propagiert, weder von den Lebenskünstlern, noch vom Amt.


Dann kam besagter Schlaumeier und hängte dieses Modell an die große Glocke. Und erwies der Szene einen Bärendienst.


Ganz zu Beginn der Sendung von Sandra Maischberger erzählt Johannes Ponader, politischer Geschäftsführer der Piratenpartei, Künstler und bekennender Nonkonformist, von seinem Lieblingsbuch aus dem Kindergarten. Es ist die wunderschöne, verträumte Geschichte von der kleinen Maus Frederick. In der Geschichte sammeln fleißige Feldmäuse das ganze Jahr Nahrungsmittel für den Winter. "Und Frederick macht da nicht mit", erzählt Ponader mit kindlicher Begeisterung. Denn Frederick sammelt andere Dinge: Sonnenstrahlen, Farben, Geschichten, mit denen er seinen Mäuse-Freunden die kalten Winterabende versüßt.

(...) Der Rest geht unter in wütendem Geschrei. (...)

Wie immer, wenn Ponader irgendwo auftaucht, kommt die Runde rasch auf seine persönliche Situation zu sprechen. In den vergangenen zweieinhalb Jahren, so berichtet Sandra Maischberger, habe er zehn Monate Hartz IV bezogen. "Wie alt sind Sie und wie viel Steuern haben Sie schon bezahlt? Wahrscheinlich gar nix", hält ihm Millionärin Obert entgegen. "Was Sie über Wirtschaft sagen, ist viel zu kurz gesprungen", geht Roßmann Ponader an. "Der Sozialstaat ist nicht für Leute wie Sie erfunden worden", ruft Köppel.

Und da ist er dann, der Moment, in dem in Ponaders Gesicht irgendetwas zerbricht. Gerade jetzt, wo es nicht nur um sein ureigenstes Thema sondern auch noch um ihn persönlich geht, versagt ihm plötzlich die Stimme. Er ringt nach Luft und man sieht ihm deutlich an, wie ihm alles zu schaffen macht: Dass das ganze Land, inklusive führender Vertreter der Agentur für Arbeit, seit Wochen über seine Einkünfte und seinen Lebensstil debattiert. Dass er für viele zum Sinnbild des Sozialschmarotzers, des arbeitsscheuen Künstlers, geworden ist.

"Was mich ärgert, ist diese Fokussierung auf eine Person", stößt er irgendwann hervor. Man kann ihn gut verstehen. Doch auf der anderen Seite zeigt diese offensichtliche Verwunderung auch die Naivität des Piraten Ponader. Denn immerhin war er es, der als seinen ersten großen Coup als politischer Geschäftsführer der Piraten in der FAZ einen vielbeachteten Essay mit dem Titel "Mein Rücktritt vom Amt" schrieb - und so seine Person in der Hartz-IV-Debatte in den Vordergrund rückte.

Das bedingungslose Grundeinkommen, für das Ponader leidenschaftlich kämpft, ist ein ebenso komplexes wie umstrittenes Thema - ein Thema, das eine sensible, differenzierte Herangehensweise erfordert. Man hätte viel darüber schreiben können: über die Gründe, warum Menschen Hartz IV beziehen. Über verschiedene Schicksale, über Gerichtsverfahren, nicht zuletzt über Alternativen zum System. Doch Ponader entschied sich in erster Linie für seine persönliche Geschichte, ehrlich aufgeschrieben in dem ihm eigenen, selbstbewussten, originellen, manchmal trotzigen Tonfall.

Das hätte gutgehen können - ist es aber nicht. Das zeigte sich deutlich in den vergangenen Tagen: Einige wohlmeinende Parteifreunde hatten eine Spendenaktion für ihren politischen Geschäftsführer gestartet. Die Parteibasis lief Sturm. Die Spendenaktion roch für viele zu sehr danach, als wolle da ein prominentes Parteimitglied seine Popularität ausnutzen, während andere umsonst buckeln. Denn die Piratenvorstände arbeiten grundsätzlich ehrenamtlich.

Ponader hat vielen Munition geliefert

Es zeigt sich nun auch in jenen Momenten bei Maischberger, in denen der Einser-Abiturient Ponader von der rosa gekleideten Millionärin Obert gedemütigt wird - und es nicht schafft, der eher einfach gestrickten Dame Paroli zu bieten. Zwischen dem Mann, der hier bei Sandra Maischberger in seinem Pulli versinkt und jenem frechen Freak, der einst Günther Jauch mit anarchistischem Getwitter und stoischem Grinsen aus der Fassung brachte, liegen eigentlich nur wenige Monate.

Und doch ist der politische Geschäftsführer der Piraten kaum wiederzuerkennen. Zwar bekommt er es noch irgendwie hin, einen Mindestlohn und die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen zu fordern, doch beim Mindestlohn stimmt ihm sogar die Geht-doch-arbeiten-Millionärin Obert zu. Über die Sanktionen will jetzt, fünf Minuten vor Schluss, auch keiner mehr reden.

Ponader, so viel ist inzwischen klar, hat all jenen Munition geliefert, die Künstler für verdächtige Objekte und Hartz-IV-Empfänger pauschal für arbeitsscheue Taugenichtse halten. Doch das ist vielleicht noch nicht einmal besonders schlimm. Denn wer den Wert von Arbeit allein am Verdienst misst, der wird wohl niemals ein bedingungsloses Grundeinkommen gut finden - ganz egal, welche Argumente die Piraten auffahren.

Doch er hat mit seiner Kampagne auch viele verprellt, die eigentlich wie er Hartz IV kritisch gegenüberstehen: eben mit jener Herausstellung seiner Person, für die er sich selbst mit einem Artikel in der Ich-Perspektive entschieden hat. Denn nun will zwar jeder mit Ponader über sein persönliches Einkommen, seine Ausbildung, seine Werte und das Recht der Kreativen auf Sozialleistungen diskutieren.

Aber niemand über jene Menschen, die diese nicht nur gelegentlich beziehen wie Ponader, sondern ständig. Die keinen Weg mehr aus der Armut finden. Die krank sind, sich alleine um eine Familie kümmern müssen, die keine Ausbildung haben. Kurz: Um diejenigen, die noch immer auf die ein oder andere Weise ohne Hoffnung gefangen sind im System Hartz IV.




Johannes Ponader hatte in Bayern ein Einser- Abitur abgelegt, er hätte im Prinzip alles machen können, hatte sich aber für ein Leben als Künstler entschieden. Ähnlich wie ich, ich hatte, aus Bequemlichkeit, mich durch ein geisteswissenschaftliches Studium geschlängelt nach dem Motto "Für irgendeinen Gammelposten im Öffentlichen Dienst wird es bestimmt reichen" (es reichte nicht).

Der Unterschied:

Ich wußte immer, daß mein Lebensstil nur in einer Nische unter jeglichem Radar möglich ist.

Daß meine Hippie- Nummer nur dann funktioniert, wenn außenrum die "normale" Nummer läuft.

Das ist es, was mich immer wieder ratlos zurückläßt: daß ich in meinem Umfeld diese Binse dauernd neu erklären muß.

Wie ich höre, wird das ALG II nächstens in Bürgergeld umbenannt, und die Sitten werden gelockert. Es fehlt nicht mehr viel bis zum Bedingungslosen Grundeinkommen, für die ganze Welt übrigens. Man muß kein Prophet sein...




Derweil ist heute - 2022 - in der FAZ zu lesen:


„Wir werden immer mehr", freut sich die Psychoanalytikerin Corinne Maier. Ihre programmatischen Bücher „Die Entdeckung der Faulheit" und „No Kids. 40 Gründe, keine Kinder zu haben" wurden ins Deutsche übersetzt. Die Vulgarisierung als Comic führte zum Album: „Anti-Arbeit, Anti-Kids, Anti-Frankreich". „Wir misstrauen den Institutionen, die Aktualität interessiert uns nicht. Am Arbeitsplatz leisten wir ein Minimum", fasst Maier ihre Botschaft zusammen. „Drei Millionen Neets" geben ihr recht. Das Kürzel steht für junge Menschen (meist Männer), die sich in keiner Ausbildung befinden und keine Arbeit haben. „Wozu auch? Sich Mühe geben? Alle Kämpfe erwecken den Eindruck, als seien sie längst gewonnen oder im Voraus verloren." (...) „Wir, die Desengagierten, warten auf das Ende und rühren keinen Finger mehr."


"Alle Kämpfe erwecken den Eindruck, als seien sie längst gewonnen oder im Voraus verloren."

"Du hast keine Chance, nutze sie!" (Herbert Achternbusch)