01.11.2021

ca. 1980: Vorspiel

Ich sitze als Schuljunge im Kino und frage mich, wie diese Szene (eine Variation von "Des Kaisers neue Kleider") am Zensor vorbeikommen konnte.



(Till Eulenspiegel als "Maler" erklärt dem Auftraggeber, daß sein Kunstwerk nur verstehen kann, wer im rechten Glauben lebt. Zusammen mit seinem Gehilfen verbringt er die nächsten Monate faul und träge. Kurz vor Ablauf der Arbeitsfrist wirft er einfach Farbe an die Wände. Der Fürst und sein Gefolge loben ihn als großen Künstler.)

Ich war stolz wie ein Spanier, daß ich durch die Alterskontrolle geschlüpft war. Der Film war ab 16 Jahren freigegeben und haute mich völlig um. In einem Land, in dem alles mit dem Ziel des unablässig Arbeitens durchorganisiert ist, so eine anarchistische Ungeheuerlichkeit? War das eine Parabel auf die DDR? Später erfuhr ich, daß ich eine sehr seltene Gelegenheit erwischt hatte, es war angeblich eine Privatinitiative des Filmvorführers, der Film war eigentlich cancelled (würde man heute sagen).

Heute meine ich: eine Gesellschaft braucht einige Till Eulenspiegel. Er hat eine wichtige Funktion. Die Betonung liegt auf "einige". Was, wenn das alle machen? Diese Frage bekamen wir als Kinder bei vielen Gelegenheiten um die Ohren gehauen, und ja: was herauskommt, wenn geschätzte 50% der Jungen Leute irgendwelche Spaß-, Selbstfindungs- oder Romantikstudiengänge anstreben, können wir heute sehen.

Vor 40 Jahren war ich einer von denen, die ihren Lebensweg nach dem Motto "Hauptsache anders!" einschlugen. "Alternativ" bedeutete in erster Linie, nicht so viel zu arbeiten wie die Altvorderen (die 43,75- Stunden- Woche war noch normal). Spaß haben (zuvörderst). Umweltschutz (wurde in Ost und West noch weitgehend ignoriert, kann man sich heute nicht mehr vorstellen). Frieden und Abrüstung (es war noch Kalter Krieg der Supermächte).