04.11.2021

Die behutsamen Reformer und die radikalen Revolutionäre

1988. Die DDR ächzte und stöhnte, es wurde immer klarer, daß es so nicht weitergehen konnte.

Eine Gruppe von Reformern war schon vor 1989 aktiv. Logisch. Wir waren die Vorsichtigen, die Behutsamen. Ebenfalls logisch. Es begann mit Eingaben ans ZK der SED - die mußten natürlich so formuliert sein, daß niemand konterrevolutionäre Umtriebe hineininterpretieren konnte. Wir kamen zum großen Teil aus dem christlichen Umfeld, demzufolge klang alles ein bißchen nach Kirchensingsang. Heute würden unsere Texte belächelt, wahrscheinlich. Windelweiches Zeug, aber das war unter den Bedingungen einer Diktatur kaum anders möglich. Die Staatsmacht hatte genügend Gummiparagraphen, um kleine Weltverbesserer mal eben wegzusperren. Friedensbewegung? Wehrkraftzersetzung! Solche Aktivität konnte, wenn man sich allzuweit aus dem Fenster lehnte, richtig ins Auge gehen.

1988 witterten wir Morgenluft. Gorbatschow! 1989 überschlugen sich die Ereignisse, und während wir, die behutsamen Reformer, noch versuchten, irgendwelche Konsenspapiere zu entwerfen, nahmen die Dinge ihren Lauf, und der Rest ist Geschichte. Es endete damit, daß das Neue Forum in völliger Bedeutungslosigkeit verschwand.

Ich landete in der Hochschulpolitik, hauptamtlich sogar. Was wir (der frischgegründete Studentenrat) vorhatten, ist jetzt im Nachhinein schwer zu erklären. "Evaluierung" der Lehre nannten wir das, es sollte darum gehen, Inhalte und Lehrkräfte auf Demokratiefähigkeit abzuklopfen.

Als ausgesprochener Softie versuchte ich, es allen recht zu machen, wollte der moderate Mann der Mitte sein, hatte keine Idee, was ich eigentlich in Gang bringen wollte, das Einzige, was ich hinkriegte, war, Jürgen Möllemann (damals noch Hochschulminister) die Aussage aus dem Kreuz zu leiern, daß wir eine Verfaßte Studentenschaft aus der Taufe heben dürfen. Das hieß: wer sich an der Uni einschreibt, ist automatisch Mitglied der Studentenschaft und bezahlt einen Beitrag, damals waren das 5,- DM. An uns. Automatisch. Heute bin ich darauf kein bißchen stolz, denn diese Zwangsgebührenmodelle bringen regelmäßig Korruptionsskandale hervor.

Nun hatten wir viel Geld und immer noch keinen Plan.

Dann kamen die Wessis. Der Kulturschock.

Es sollte einen "Republiksprecherrat" geben, so was Übergeordnetes. Dafür reisten die Vertreter der Asten und Usten an. (Allgemeine bzw. Unabhängige Studentenausschüsse, so hieß das drüben. Judäische Volksfront. Volksfront von Judäa.) Eine Freakshow. Anarchisten, Maoisten, Feministen... das volle Programm. Alles, was es gibt. Ein Überbietungswettkampf in bizarrem Auftreten und der Schrillheit der Forderungen.

"Deutschland, du mieses Stück Scheiße" und so, das war der Grundkonsens, auf den sie sich verständigen konnten, darüber hinaus kam nichts zustande.

Das war nun meine Erfahrung als behutsamer Reformer mit den Radikalinskis. Gestern noch weichgespülte Konsenspapiere, heute der wüsteste vorstellbare Punk. Über die dahinterstehenden Theorien wird noch zu schreiben sein.

Der Spuk zog sich über Monate hin und es wurde immer klarer: das ist hier kein Ausrutscher. Das ist repräsentativ. Die Spinner und Sektierer aus dem Westen leben in eigenen Welten. Die sind gemeingefährlich. Hoffentlich kommen die nie zu Macht und Einfluß. (Spoiler: sie kamen zu Macht und Einfluß.)

Aber egal. Ich wurde zerrieben, verlor den Boden unter den Füßen und wurde irgendwann wegen Unfähigkeit rausgeschmissen. Dann habe ich mangels einer besseren Idee das Studium abgeschlossen.

Die 90er Jahre gingen weiter, und ich genoß erst einmal das Studentenleben. Endlich dann 1998 Rot- Grün! Wir tanzten auf den Straßen. Oskar Lafontaine wird Kanzler! Die bleiernen Kohl- Jahre sind endlich vorbei! Der Jubel dauerte eine Nacht an und dann das Entsetzen: Wer zur Hölle ist Schröder?

Mit der Höhe der Erwartungen war die Fallhöhe für Enttäuschungen vorgegeben, und die Enttäuschung tat sehr weh.

EDIT: Hier eine wütende Tirade über Oskar Lafontaine, die ich mir nicht 100%ig zueigen mache, die sich zur Kenntnis zu nehmen aber lohnt. Es wird immer klarer, daß alles in der Rückschau immer unklarer wird.


Nachtrag: gerade scrollte dieser Text vorbei, und der ist in dem Zusammenhang richtig wichtig. Das ist nämlich die Verbindung zu heute, auf die ich dann später noch hinauswill:
In Deutschland ist das Modell der Wokeness besonders erfolgreich, weil sie hier auf eine besonders artverwandte Weltanschauung stößt, die den normalen Wokeness-Wahnsinn aus Übersee blendend ergänzt: Nämlich auf die Weltsicht der Antideutschen.
- Wokeness - "Erwachtheit": esoterische Konzepte von Genderideologie bis Neorassismus (EDIT: Link geändert)
- Antideutsche: Teilmenge der erwähnten Spinner und Sektierer, sie hatten zwischenzeitlich in allen linken Zirkeln entweder Wortführerschaft oder Vetomacht, zumindest kommt man nicht an ihnen vorbei. (Daneben gibt es noch eine pro- palästinensische Fraktion (vermutlich heute die Wortführer?), die nun von der Logik her anti- anti- deutsch sein müßte, weil die Antideutschen extrem pro Israel sind, da kenne ich mich nicht aus. Wissen die wahrscheinlich selber nicht.)

EDIT: Zu diesen beiden Fraktionen gibt es jetzt hier einen kurzen erhellenden Überblick.