01.12.2021

Prä- Postmoderne (Theorievorspiel 1)

Dann kommt ein biographischer Bruch, und auch ein "philosophischer" Paradigmenwechsel. Die neue Philosophie kommt aus dem Robert- Anton- Wilson- Umfeld ("RAW") und kommt daher als Mix aus Wissenschaft, Satire, Spekulation, völligem Blödsinn.

Mit ein paar Leuten machte ich Musik, und in der Band war einer, der gab mir allerlei Literatur. Den Neuen Prometheus zum Beispiel. Ein Ritt auf einer Rasierklinge. "Realität" ist in diesem Konzept, abgesehen von dem physikalischen Aspekt, eine subjektive Angelegenheit, nämlich das, was im Gehirn ankommt, bzw. was das Gehirn daraus macht. Die Folge: verschiedene Personen, auch wenn sie sich im gleichen Raum befinden, können in unterschiedlichen Realitäten leben. Psychologie schlägt Materie. (C.G. Jung läßt grüßen.) Wie kann das sein? Die Quantenmystik macht's möglich! (Das ist jetzt extrem abgekürzt, aber egal...)

EDIT (2): Der Fachbegriff ist "Solipsismus".

EDIT: Hier fehlt ein Übergang. Das Folgende sind keine RAW- Zitate, das sieht nur so aus.

Jedenfalls bin ich darauf ganz schön hängengeblieben... 

Das Doppelspaltexperiment funktioniert auch mit Fullerenen? Also ist die Grenze zwischen Mikro- und Makrowelt fließend!

Ein Positron, das sich rückwärts durch die Zeit bewegt, ist formal nicht von einem Elektron unterscheidbar? Aha! Damit ließe sich doch zumindest im Prinzip Information in der Zeit zurückschicken!

Ist der Zufall determiniert? Ist Wahrscheinlichkeit beeinflußbar? Da geht doch bestimmt irgendwas...

Usw... usw... Aus Halbwissen läßt sich eine unglaubliche Wunderwelt bauen, und das macht Spaß! Obwohl ich immer ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß selbstverständlich kein Gottesbeweis zustandekommen soll, hatte ich genau das gemacht: überall Mechanismen ausgemacht, vermittels derer eine "übergeordnete Entität" die materielle Welt zielgerichtet beeinflussen könnte. Der Glaube muß nicht Berge versetzen, es genügt, wenn er die Wellenfunktion eines Elektrons auf die richtige Weise... und so. Wissenschon.

Laßt es mich so sagen: als Geisteswissenschaftler, der glaubte, in der Physik mitreden zu können, habe ich mich episch blamiert. Dafür kenne ich viele von den "erstaunlichen" Konzepten und erkenne sie wieder, wenn ich sie sehe.

In den nuller Jahren allerdings war ich begierig darauf, zu sehen, wie die "Erkenntnisse" aus dieser Ecke langsam in das öffentliche Bewußtsein einsickerten, z.B. freute ich mich, als in einer wissenschaftlichen Publikation eines Bundesinstituts eine Übersicht über "vielversprechende Entwicklungen der Alternativen Physik" veröffentlicht wurde. Neuerdings hört man aus der Ecke kaum noch was (bzw. ich kriege davon nichts mehr mit, weil ich das Thema meide).

Dazu kam seinerzeit dann noch allerlei Fernöstliches, das wurde eine hübsche Mischung. Auf dem Höhepunkt dieser Phase hatte ich mich soweit vergaloppiert, daß ein Freund, der Pfleger ist in der Psychiatrie, meinte: die, die sie bei uns einliefern, die reden alle so wie du.


Während ich das schreibe, scrollt ein Text vorbei, den ich der Parallele wegen gleich zitiere:

Die Übernahme des Feminismus in die Parteiprogramme linker Parteien wird allerdings Langzeitfolgen haben, die zurzeit noch nicht abgesehen werden können.

Die Ursache für diese Haltung linker Parteien sieht Ulfig in ihrer Anpassung an einen „postmodernen Kulturrelativismus", für den es keine objektive Wahrheit, keine reale Welt außerhalb des eigenen Ichs mehr gibt. Alles ist demnach relativ, fließend, unbestimmt, Gefühl, Meinung, Deutung, Interpretation. Es gibt – hatte schon Michel Foucault, der Altmeister der Postmoderne, Anfang der siebziger Jahre geschrieben – „kein absolutes Erstes, das zu interpretieren wäre, denn im Grunde ist alles schon Interpretation, jedes Zeichen ist an sich nicht die Sache, die sich der Interpretation darböte, sondern eine Interpretation anderer Zeichen." Die Realität soll sich, wie Werner Seppmann mit Recht anmerkt, im Prozess einer „unendlichen" Interpretation und eines ziellosen Fragens in einer Nebelwelt von Übergängen, Differenzen Verschiebungen, Spaltungen etc. auflösen. „Nichts ist eindeutig erfassbar und zusammenhängend 'lesbar', kein Unterschied zwischen Text und Kontext zu bezeichnen." Ulfig folgt diesem Befund Seppmanns. Realität als ein außer uns Existierendes, das eigenen Gesetzen folgt, ist nach postmoderner Weltanschauung eine Fiktion. Realität löst sich in Interpretation, Deutungen und eine endlose Folge öffentlicher Diskurse auf. Logischerweise kann es  in der postmodernen Welt keine universellen Werte, keine gültigen Normen und keine allgemeinen Rechte, etwa die Menschenrechte, wie sie die europäische Aufklärung reklamiert hatte, geben.

Das einzig Konstante in dieser Welt des postmodernen Kulturrelativismus ist das eigene Ich, die Person, die durch ihre jeweilige Deutung und ihre jeweilige Interpretation allein Realität schafft, für sich und – das ist entscheidend – auch für andere, allerdings nur dann und insofern als die Person Macht und Einfluss besitzt und über den Zugang zum öffentlichen Sprechen und Schreiben verfügt. In dieser postmodernen Welt absoluter Beliebigkeit, grenzenloser Freiheit, unbeschränkter Selbstverwirklichung, einer Welt des totalen Individualismus, des „Alles ist möglich" und des „Alles kann und ist in Frage zu stellen", gibt es nur noch den einen Halt, den einen archimedischen Punkt, um den sich alles dreht: die Frage nach der Macht. Ihr Besitz ist von überragender Bedeutung. Sie entscheidet darüber, was wir als Realität wahrnehmen, was wir als Realität bereit sind zu akzeptieren oder was wir zu akzeptieren gezwungen werden. Der Zugang zur Macht und der Zugang zum öffentlichen Diskurs sind die beiden wichtigsten Säulen, auf denen die gesellschaftliche Realität beruht und um die sich alles dreht.

Der Mentalismus der Meta- Physik und die Beliebigkeit der Postmoderne.

Beides ist reinste Esoterik. Zweiteres ist mittlerweile offizielle Politik.


(Ich hatte den Quantenspuk dann als unfruchtbar abgetan, weil an den Stellen, an denen es richtig spannend wurde, immer ein 50 / 50 herauskam. Kann sein, vielleicht, vielleicht auch nicht. Nicht beweisbar, nicht widerlegbar, Alberne Gehirngymnastik. Wird letztlich langweilig. Und vor allem, wenn mal einer mit Ahnung zuhört: peinlich. Außerdem hatte ich beruflich umgesattelt in eine Branche, in der man mit wolkigen Thesen nicht weit kommt.)