26.12.2021

1968 (Theorievorspiel 3)

Nach dem Blick auf die Postmoderne war es nun folgerichtig, den Vorläufer zu betrachten: die Theorien der 68er.

1968.

Eine Zahl wie Donnerhall. Selbstverständlich sind wir alle die Kinder / Enkel der 68er! Oder wünscht sich jemand den Muff der Adenauer- Zeit zurück? Na also. Mit dieser Frage bzw. Ansage bin ich großgeworden, das wurde auch in der DDR so rezipiert, die rebellierenden Studenten waren selbstverständlich die Guten, die Fortschrittlichen, die, die auf der richtigen Seite standen... wenngleich man ihre Schriften nicht zu lesen bekam. (Von offizieller Seite war von "Revisionismus" die Rede, d.h., man warf ihnen vor, die Schriften von Marx, Engels, Lenin allzu frei zu interpretieren. Genau wußten wir es nicht, ein gewisses Interesse war vorhanden, vielleicht hätte sich etwas daraus lernen lassen?)

Ich schreibe als Nachgeborener. Als solcher (und wenn man jung ist, sowieso) kann man wunderschön romantisieren. Die Verhältnisse schienen so wunderbar übersichtlich: junge, moderne Menschen zeigen verklemmten Konservativen und übriggebliebenen Altnazis, daß der Geist des Fortschritts und der Weltoffenheit weht. Und Sex und Drugs und Rock'n'Roll und Woodstock und Frauenbefreiung und Martin Luther King und... einfach alles.

Im Ernst. Alles, was unsere heutige Lebensart in geistig- kultureller Hinsicht ausmacht, wurde in den 60ern gestartet. Man kann das gar nicht hoch genug einschätzen! Das meine ich völlig unironisch. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, an dieser Stelle irgendetwas zu hinterfragen. Wie auch? Was man romantisiert, stellt man nicht infrage.

Als dann 1990 die Möglichkeit bestanden hätte, die entsprechende Literatur zu besorgen, war mein Interesse wiederum nicht groß genug, das Leben und das Studium und die Feierlichkeiten waren ein prall gefüllter Kalender, und nach der Bauchlandung beim Studentenrat hatte ich ohnehin keine Lust mehr auf Politik. Erst mit sehr viel Verspätung schlich sich das Thema wieder an.

Wie kam es zum Theoriefundament der Studentenbewegung?

Es beginnt in den 20er Jahren mit der Kritischen Theorie, auch als Frankfurter Schule bekannt. Hier gibt es eine graphische Kurzübersicht.

Wie läßt sich das endlos lange akademische Getexte der "Frankfurter" auf den Punkt bringen?

Man müßte sich durch unglaubliche Mengen an Geschwurbel und Gequatsche hindurchlesen und bekäme nur schlechte Laune. "Die Menschen" seien eigentlich ganz anders, aber sie sind "vom Kapitalismus" verblendet und glauben Bedürfnisse zu haben, weil die Werbung ihnen das eingeredet hat, die Kultur sei zur Ware verkommen, das Bürgerliche sei die Zielgerade zum Faschismus, die Zivilisation sei Barbarei, Normalität sei Perversion... ich karikiere das jetzt mal, um zu zeigen, worin die "Kritik" besteht: alles wird verrissen und zum "Falschen Leben" erklärt, innerhalb dessen kein "Richtiges Leben" möglich sei. Dieses Zeug, was man in Studentenkreisen immer wieder zu hören kriegt, wenn man nicht rechtzeitig das Weite gesucht hat.

Besser aus Zweiter Hand:

"Die Frankfurter hatten ein Bild vom Menschen, von richtigen Bedürfnissen, von wirklichem Fortschritt, von echter Emanzipation etc., aber die Menschen verhielten sich nicht entsprechend. Anstatt nun ihr Menschenbild zu korrigieren (wie es aus Sicht einer Falsifikationstheorie sinnvoll wäre) haben sie die Ursachen nur in den gesellschaftlichen Verhältnissen, bestenfalls noch in der Psyche der Menschen gesucht. Dass die Ursachen auch in der Natur des Menschen liegen könnten, wurde nicht in Erwägung gezogen. Die Reaktion war Kultur-Pessimismus, Rückzug in den Elfenbeinturm oder das Beharren auf nicht realisierbaren Forderungen."

Wir entwerfen im Geiste eine Gesellschaft und müssen dann nur noch den Menschen erschaffen, der dort hineinpaßt.

Wenn der Real Existierende Mensch nicht in unsere Ideale Gesellschaft paßt, um so schlimmer für ihn!

Das ist übrigens der gleiche Fehler, den die Vertreter des "Intelligent Design" (Göttliche Schöpfung) machen. Sie denken vom Gesamten zum Einzelnen, von oben nach unten, von Gott zu den Geschöpfen. Die Natur funktioniert aber genau anders herum: vom Simplen zum Komplexen, von unten nach oben, von der Zelle zum Organismus, vom konkreten Menschen zur Gesellschaft. Das ist es übrigens der Hauptaspekt, den ich meine, wenn ich von "Evolution" spreche. Komplexe Systeme lassen sich nicht "vom Ende her denken".

Horkheimer und Adorno sind die "Klassiker".

Marcuse war der radikalste (und populärste, bis heute): Alles kaputtschlagen, der Rest ergibt sich irgendwie!

In seinem 1964 erschienenen Werk Der eindimensionale Mensch entwarf er Strategien zum Umsturz westlicher Gesellschaftsordnungen. Ihm zufolge könnten marxistische Revolutionen nur dann gelingen, wenn diese Ordnungen zunächst von innen heraus zersetzt würden. Da Arbeiter nicht über das erhoffte revolutionäre Potenzial verfügten, müsse man stattdessen ethnische Minderheiten mobilisieren, um westliche Gesellschaften zu destabilisieren. Marcuse formulierte damit die Grundlagen der „Critical Race Theory" und des neomarxistischen "Antirassismus", der die identitätspolitischen Bewegungen der Gegenwart prägt. Der wachsende Einfluss dieser Bewegungen an Universitäten, in den Medien und auch in Staat und Politik stellte mittlerweile eine ernstzunehmende Bedrohung für freiheitliche Gesellschaften dar. (...)

Marcuse ging davon aus, dass nur ein mit unbegrenzter Macht ausgestatteter neomarxistischer Staat den Menschen zu seinem Heil führen könne. Menschen müssten dazu zunächst von ihrem "falschen Bewusstsein" befreit werden. Der neomarxistische Staat müsse außerdem alle gesellschaftlichen Institutionen beseitigen, die dem im Wege stünden.
Nach einer Phase revolutionären Zwanges werde im neomarxistischen Staat ein "Bruch" mit der bisherigen Menschheitsgeschichte eintreten, der zu einer "neuen menschlichen Wirklichkeit" führen werde. Die von ihm angenommene gute Natur des Menschen werde dann durchbrechen und eine „Neubestimmung der Bedürfnisse" eintreten. Der dadurch geschaffene neue Mensch müsse nicht mehr dazu gezwungen werden, vernunftgemäß zu handeln, wodurch ein utopischer Heilszustand eintrete.

Einen "Bruch mit der bisherigen Menschheitsgeschichte" haben m.W. nicht mal Hitler & Stalin propagiert.

Zurück in die 80er Jahre. Ich wäre damals nie auf die Idee gekommen, an dieser Stelle irgendetwas zu hinterfragen. Wie auch? Was man romantisiert, stellt man nicht infrage. Und was man nicht kennt, läßt sich trefflich romantisieren. Ein perfekter circulus vitiosus.

Was machte mich wann stutzig? Ich weiß es nicht mehr. War es dieser Text?

Mich interessiert ja eher, wie weit die Auswirkungen von 1968 in die persönliche Lebenswelt hineinreichen und wie sich das literarisch verarbeiten lässt. Aber wenn Sie so fragen: Die 68er waren groß im Zerstören von Institutionen und Werten: die deutsche Universität haben sie auf dem Gewissen, die Familie, das Leistungsprinzip, Etikette und Anstand, Verlässlichkeit und Geborgenheit. Um ein Beispiel zu nennen: In den Stücken des Berliner Grips-Theaters findet man immer wieder Plädoyers für die Zerstörung von familiären Hierarchien und Strukturen, von Respekt, jenem Respekt, den Richard Sennett in seinem neuesten Buch so dringend einklagt. Und im "Kursbuch 17" wird geschildert, wie die Bindung zwischen Eltern und Kindern systematisch zerbrochen werden muss - weil die Kinder sonst angeblich autoritäre Persönlichkeiten werden. Was die 68er damals ideologisch legitimierten, hat sich gesellschaftlich vollzogen, aber nicht als Utopie, sondern als Verwahrlosung.

Oder war es die Geschichte eines jungen katholischen Theologen, der ein behutsamer Reformer war, und im Entsetzen über die Kulturlosigkeit der Radikalinskis zum Erzkonservativen wurde?

Tübingen sonnte sich im Glanz der beiden großen Theologen, auch wenn sie unterschiedlicher kaum sein konnten: Küng gab sich weltmännisch, umtriebig, war im Schwabenstädtchen mit seinem Cabrio unterwegs, Ratzinger radelte unscheinbar zur Uni. Dementsprechend unterschiedlich empfanden sie die Studenrevolte: Für Küng waren die Proteste Motivation und Antrieb, für Ratzinger indes ein Trauma. In seinen Erinnerungen wird das Entsetzen Ratzingers über die wilden Umtriebe deutlich. Er habe damals "das grausame Antlitz dieser atheistischen Frömmigkeit gesehen, den Psycho-Terror, die Hemmungslosigkeit, mit der man jede moralische Überlegung als bürgerlichen Rest preisgeben konnte, wo es um das ideologische Ziel ging", schreibt er.

Das kam mir doch so vertraut vor...

Ein ganz großer Aha- Effekt war dann das hier. Kurzform: Als der Zug der Reformen war schon angefahren war, erst dann waren die Studenten aufs Trittbrett gesprungen. Sie haben sich mit fremden Federn geschmückt.

"...konstatierte der Kultursoziologe Wolfgang Eßbach, der selbst dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) angehört hatte, im Jahr 2006: "Man wird sagen müssen, dass viele der reformerisch Aktiven, die um 1930 geboren wurden und die um 1960 die Bundesrepublik neu zu gestalten begonnen hatten, in der historischen Erinnerung heute von den Achtundsechzigern um ihren Ruhm betrogen worden sind." Eßbach weist darauf hin, "dass es nicht in erster Linie Altnazis waren, mit denen die Achtundsechziger zu kämpfen hatten", sondern vor allem "junge, reformfreudige und konfliktfreudige Ordinarien mit neuen Ideen"."

Die jungen Reformer betrogen von denen, die Plakate hochhielten wie "Marx - Mao - Marcuse". Hmmm. Das macht dann schon ein wenig nachdenklich. Oder auf neudeutsch: WTF!?!

"Mit Ausnahme von Herbert Marcuse reagierten praktisch alle Emigranten, die nach 1933 Deutschland hatten verlassen müssen, ähnlich: Zunächst freuten sie sich über die Unruhe der Jugend, aber schon nach wenigen Monaten erschraken sie vor dem deutschen Furor, der in den 68ern steckte, sich bald wild austobte und den sie nur allzu gut kannten."

Der alte Horkheimer hat sinngemäß gesagt: Sie berufen sich auf meine Theorien. Sie sind wie Kinder. Sie wissen nicht, was sie tun. Was habe ich angerichtet?

Habermas sprach das Wort vom Linksfaschismus. Adorno geriet zwischen alle Stühle, galt am Ende als der Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht losgeworden war.

Und ab 1969 ging es dann gegen Willy Brandt.

Ich hätte schon 1990 stutzig geworden sein sollen. Was ich damals erlebt hatte, war offenbar die folgerichtige Fortsetzung dessen, was 1968 passiert war.

Eins noch:

"Während der Studentenbewegung war der am meisten gefürchtete Feind nicht der Reaktionär. Es traf vielmehr den „Scheiß-Liberalen", der auf die Einhaltung der Regeln in liberalen Demokratien beharrte. Der Hass auf ihn war um so vehementer, weil dieser ursprünglich als Verbündeter betrachtet worden ist. In der Kritik an den Notstandsgesetzen oder an der alten Ordinarienuniversität war man sich schließlich einig gewesen.

Die Proteste gegen den Vietnamkrieg sorgten für den Umschwung. Es ging nicht mehr um die Erwartung, die Vereinigten Staaten sollten als Führungsmacht der freien Welt ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden. An dessen Stelle trat die Identifikation mit totalitären Heilsbringern wie Mao Tse Tung oder Ho Tschi Minh. Diese autoritäre Wende der Studentenbewegung beschrieb niemand besser als ausgerechnet Max Horkheimer in seinen posthum veröffentlichten Notizen. Freiheit und Gleichheit würden „für alle die, die anderer Meinung sind, auf totalste Weise niedergebrüllt." Zugleich trete die Forderung nach Brüderlichkeit „in Formen auf, die aufs peinlichste an die „Volksgemeinschaft" erinnern." Es sei „der Wunsch nach Geborgensein in einer mächtigen Gruppe, das aus der in der heutigen Gesellschaft vorherrschenden Isoliertheit heraushilft."

Horkheimer hatte keinen Zweifel, dass sich die meisten der damaligen Rebellen „begeistert in eine neue totalitäre Ordung einfügen würden." Die Angst vor einem neuen Totalitarismus begleitete ihn bis zur seinem Tod im Jahr 1973. Der ist nicht passiert, weil aus manchen früheren Rebellen später die „Scheiß-Liberalen" wurden, die sie einst bekämpften."

"Liberale" hieß damals noch "Bürgerrechtler", diejenigen, die die bürgerlichen Freiheiten gegen einen übergriffigen Staat verteidigen.

Als Freiheitsverteidiger ist man heute ziemlich einsam. Die Crux der Freiheit ist, daß sie niemanden hervorbringt, der sich für sie einsetzt.